Liebe Freunde
Es bricht nun das zehnte Jahr an, seit uns Tamura Sensei in unsere Selbständigkeit entlassen hat. Einem seiner Neujahrsbriefe stellte er folgende (Übersetzung einer) Kalligrafie von O Sensei voraus:
Wa
In Harmonie mit dem Himmel,
In Harmonie mit der Erde,
In Harmonie mit dem Menschen,
Entsteht die Kunst aus sich selbst.
Der Geist bewegt sich frei in Kreisen,
und vereinigt sich mit dem Universum.
Gerade die Zeit des Jahreswechsels lädt uns dazu ein, uns ein paar Augenblicke des Nachsinnens über bewegende und bedrückende Momente der vergangenen Jahre zu erlauben. Ich möchte dieses Mal einige Gedanken von Tamura Sensei über Krieg und Frieden (Feuer und Wasser) mit Euch teilen und überlegen, zu welchen Schlüssen sie uns führen könnten. Krieg und Frieden … große Themen. Aber vergessen wir nicht wir sind Budoka und wer, wenn nicht wir, sollten zumindest einmal am Ende eines Jahres über den Krieg nachgedacht haben … könnte es sich nicht lohnen, über ihn nachzudenken, um sein Gegenteil nicht aus dem Auge zu verlieren?
Unser geschäftiges Dasein, das den Frieden (zu) selbstverständlich nimmt, lässt uns oft das Leid des Krieges vergessen, welches auch gegenwärtig wieder über vielen Regionen der Erde liegt. Der Mensch gibt sich dem Krieg hin (oder wird in ihn gezwungen), um sich Macht/Energie zu eigen zu machen. Aber diese Energie ist nicht unerschöpflich und der Krieg frisst auch seine eigenen Kinder. Es scheint uns klar zu sein, solange wir im Konzept des Krieges verharren, gibt es keine Harmonie und wir töten im Feind auch immer das, was wir lieben. Dabei hat jeder Mensch auch seine eigenen, oft unsichtbaren Konflikte auszufechten, sozusagen einen Krieg im Inneren. Ungerechtigkeit, Verlust, zugefügte oder erlittene Schmach etc. verursachen mitunter eine Zäsur in der jeweiligen Biografie, belasten die Seele und gehen oft auch mit körperlichen Beschwerden einher. Aber, gibt es denn Licht ohne Schatten?
Wir Älteren durften mit Tamura Sensei trainieren und möchten es gerne auf diese Art weitergeben. Dafür sind die Zielvorstellung der friedlichen, kooperativen und adaptiven Koexistenz der Menschen und (pragmatischer) die Idee, wie die Bewegungen des Körpers den Geist befreien können fundmental. Das mag im ersten Moment paradox klingen, gehen wir doch gemeinhin davon aus, dass der Budoka ein Krieger ist und, dass der Geist den Körper bewegt. Aber gerade die paradoxe Beziehung des Budoka zum Krieg (zur Gewalt) sowie die wechselweise Beeinflussungsmöglichkeit von Körper und Geist ermöglichen ein Wachstum im Aikido, das dadurch losgelöst wird von gewohnten räumlichen, zeitlichen und emotionalen Beschränkungen. Aikido führt zu (zumindest innerem) Frieden (s.d. O Sensei). Tamura Sensei sagte dazu: „Indem man sein Herz befreit, lässt man freie Bewegungen entstehen. Indem man seinen Körper frei bewegt, erschafft man ein Herz, das durch nichts festgehalten werden kann“ (N. Tamura) Wir sind jetzt erwachsen und gehen unseren eigenen Weg, aber sind wir nicht dankbar, aus dieser reinen Quelle schöpfen zu dürfen?
Die zerstörerische Kraft der Gier benötigt nicht nur den offensichtlichen Krieg für ihr vernichtendes Werk. Wie wir z.B. auch zum Vorgehen der, für einen schonenden Umgang mit der Natur, protestierenden „Kinder“ von Fridays for Future stehen mögen, so hat ihre Bewegung doch wieder eindrücklich aufgezeigt, dass uns die Verschmutzung von Luft und Wasser nicht in “Harmonie mit der Erde“ bringt. Tamura Sensei hat schon vor über 15 Jahren in einem Schreiben an uns gefragt, was aus uns werden würde, wenn wir uns um die Qualität des Wassers und der Luft bekriegen müssten, wie die Menschen vergangener Jahrhunderte zuvor um Kohle und Metall. Und er proklamierte: „Das 20. Jahrhundert war die Epoche des Feuers, das 21. Jahrhundert wird unter dem Zeichen des Wassers stehen.“. Führen wir durch diesen Krieg gegen die Natur nicht auch einen Krieg gegen unsere Nachkommen?
Für Tamura Sensei war das Zeitalter des Feuers materialistisch und die Menschen haben sich in ihm mit der Ausnutzung und Ausbeutung des Sichtbaren beschäftigt. Das Zeitalter des Wassers hingegen führe über ein Verständnis des Unsichtbaren zur Zufriedenheit. Feuer (als Kulturspender) wie Wasser (als Lebensspender) können Nutzen bringen oder auch zur Katastrophe führen. Im Aikido erfahren wir aber auf jeden Fall die Möglichkeit der Einheit von Geist und Körper und können erkennen, dass die Überwindung innerer Konflikte (Feuer) durch fließende Bewegungen (Wasser) die Voraussetzung unserer persönlichen Entwicklung auf dem Do (Weg) ist. Ob der Krieg der Vater aller Dinge ist und die einen notwendiger Weise zu Göttern und die anderen zu Sklaven macht, wie der Philosoph des Feuers (Heraklit) meinte oder ob uns das Wasser als Ursprung des Lebens (die arché bei Thales) zu einem naturgemäßen Leben führt ist eine offene Frage; ist es nicht eine, die zumindest absehbar jeder für sich entscheiden muss?
Muss man denn „den Krieg vorbereiten, um den Frieden zu bekommen“ („si vis pacem para bellum“)? Zumindest sollte man ihn verstehen, um ihn in seinem eigenen Inneren besiegen zu können. Was heißt aber siegen im Aikido? Dazu „sagt“ O Sensei in einer Kalligrafie: „Masakatsu Agatsu / Katsu Hayahi“. Der wahre Sieg ist der über sich selbst / Jetzt (victory at the speed of light). Entschuldigt bitte, die Übersetzung ist stark vereinfacht, aber im Keiko (Training) wird uns ihre Bedeutung unmittelbar klar. Solange wir mit uns selbst im Unreinen sind, macht es wenig Sinn über den Aite (Angreifer) triumphieren zu wollen … sind wir im Reinen, wird der Triumph obsolet und über die Verwirklichung der Prinzipien des Aikido stellt sich auch die Effizienz der Techniken ein. So kommt man der Essenz des Budo, dem „Shinmu fusatsu“ (die wahre Kampfkunst tötet nicht) näher. Dazu, so denke ich, ist es notwendig, sich selbst nichts vorzumachen, denn „wir trainieren nicht um stark zu werden, sondern werden stark indem wir trainieren“ (N. Tamura). Wollen wir nicht gleich beim nächsten Training damit beginnen?
Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen erzähle ich dazu ein kurzes Erlebnis aus dem Beginn meiner eigenen inneren Arbeit im Aikido. Mitte der 1980er hatte ich schone einige Jahre trainiert und war ein junger Mann in recht guter körperlicher Verfassung. Wir trainierten damals mit großem körperlichen Einsatz, aber mit wenig technischer Raffinesse … zumindest ist das meine Erinnerung. Ich zählte mich also durchaus schon zu den fortgeschritteneren auf der Tatami, umso frustrierter war ich immer wieder einmal auf einem der Lehrgänge, da ich, sobald mich unser Lehrer, dieser ältere Herr (d.i. Tamura Sensei) angriff, nicht in der Lage war, auch nur ansatzweise eine Technik auszuführen, so sehr ich mich auch abmühte … den „Aikido-Senioren“ unter Euch werden solche „Erlebnisse“ vertraut vorkommen? Heute bin ich selbst ziemlich genau in diesem besten Alter und muss rückblickend über meine jugendliche Arroganz lachen. Jedenfalls, Sensei schüttelte nur den Kopf und ließ mich einmal mehr irritiert zurück. Am Ende dieser wieder einmal anstrengenden, aber auch schönen Trainingswoche ging ich wie gewohnt zu ihm hin um mich zu bedanken und zu verabschieden. Während er meinen Händedruck erwiderte, sagte er überraschender Weise diesmal aber nicht wie gewohnt, „Auf bald.“, sondern mit strenger Stimme und ernstem Blick: „Frank, Aikido ist keine Autobahn, Du musst lockerer werden.“. Etwas konsterniert stammelte ich: „Ja Sensei, …aber das ist schwierig.“. Sein Blick wurde vielleicht eine Spur freundlicher, als er mir zuzwinkerte und antwortete: „No.“. Meine Irritation nahm zwar augenblicklich nicht gerade ab, aber war damit nicht der Samen einer ergiebigen Arbeit gelegt?
So wichtig es für das Zusammenleben ist, dass man sich durch positive Handlungen in die Gemeinschaft einbringt und damit die „Harmonie mit dem Menschen“ fördert, so wichtig ist es wohl für die persönliche Entwicklung (zumindest im Aikido), dass die Einstellung sich selbst und den Anderen gegenüber im Training positiv und aufrichtig ist. Shisei, Kokyu und Irimi etc. bleiben graue Theorie, wenn sie nicht fortwährend im Keiko erobert werden und früher oder später im Inneren des Aikidoka Platz greifen können. Es gibt dann kaum eine größere Freude, als das (vorläufige) Ergebnis seiner Recherche mit Freunden und Schülern teilen zu können. Wie wäre es, wenn es uns gelänge, die gute Atmosphäre unseres Trainings, in der wir Herz und Geist harmonisch durch Aikido vereinen, auch öfter in den Alltag einfließen zu lassen um sie „mit unseren menschlichen Geschwistern und … allen Lebewesen zu teilen. Beginnen wir dieses kommende Jahrhundert im Geiste eines gerechten Lebens, des Teilens und des Fortschritts“ (N. Tamura).
Ich wünsche Euch von Herzen ein Gutes Neues Jahr 2020 und freue mich schon auf viele weitere gemeinsame Stunden der Recherche, des Teilens und des Fortschritts mit Euch auf der Tatami!
Frank