Graz Dez. 2020
Neujahrsgruß für 2021
„O Sensei, was ist Aikido?“
O Sensei: „Masakatsu Agatsu Katsu Hayahi!“
Liebe Aikidoka,
Wie wollen wir zum Jahreswechsel über das nun vergangene, als Ausgangspunkt für das Neue Jahr denken? 2020 war eine Zäsur. Viele Menschen sind an Covid erkrankt und gestorben, andere mussten sie bis über ihre Belastungsgrenzen pflegen. Auf gesellschaftlicher und auf persönlicher Ebene mussten Kontakte eingeschränkt werden. Darüber hinaus überdeckt das Pandemiegeschehen auch Leid an weniger begünstigten Orten unseres Planeten. Wäre es so gesehen nun nicht vielleicht am besten, über das vergangene Jahr einfach zu schweigen?
Wie dem auch sei, ich wurde gefragt, ob ich wieder einen Neujahrsbrief schreibe…und das haben Sie nun davon…
Ja, wir hätten im nun auslaufenden Jahr auch sehr gerne fleißig im Dojo trainiert und das gesellschaftliche Leben mit unseren Freunden geteilt. Aber ist die Enthaltsamkeit in Anbetracht der Bedingungen nicht auch ein verständlicher Verzicht gewesen; war dadurch vielleicht nicht plötzlich Raum, für Besinnung?
In den Zeremonien des Osoji und Kagami Biraki, die wir in den vergangenen Jahren immer in gewohnt belebender Weise miteinander begehen durften und die wir dieses Mal leider absagen mussten, sind die ineinander verwobenen Ideen der Reinigung und des Neuanfangs enthalten. Reinigung ist ein Akt der Befreiung. Neuanfang bedeutet, sich von Belastendem zu lösen. Bei all dem physischen Leid und gesellschaftlichen Ungemach, welche 2020 mit sich führte, drängt sich mir bei dessen Betrachtung der Begriff des Verzichts auf. War das vergangene Jahr nicht ein Asketisches?
Wir mussten oft alleine üben. Alleine üben, ist eine Form von Askese; Tamura Sensei sagt zum Aspekt des Hitori-Geiko: „Wenn man alleine ist, genügt es, über etwas Zeit und Raum zu verfügen… Es ist auch möglich Atemübungen im Zusammenhang mit Aikidobewegungen, Suburi, Tanren Uchi zu üben. Im Wald könnte man die Bäume als Partner benützen. Machen Sie Ihre eigenen Erfahrungen…“ und weiter: „Normalerweise wird Budo in einem Dojo trainiert, doch gewinnt es bei der Ausübung an verschiedenen Orten, wie zum Beispiel in einem Wohnhaus, in einem Feld, im Wald am Meeresstrand oder im Schnee. Aikido-Training ist eine immerwährende Askese, das heißt mit anderen Worten, dass das alltägliche Handeln als Lernen und Anwenden der Prinzipien des Aikido wahrgenommen wird.“
Askese als selbstgesetzte Begrenzung ist eine individuelle Herausforderung. Bedeutet es für den Einen vielleicht Konsumverzicht, liegt sie für den Anderen, ganz im Sinne des Hara Hatchi Buh (hara hatchi bun me) eher darin, sich nicht jedes Mal den eigenen Teller bis zum Rand voll zu laden. Aber liegt nicht auch der Kargheit ein Reiz inne – denken Sie zum Beispiel an die schönen Landschaften am Meer, wo durch den Süßwassermangel oft nur die hartnäckigsten Pflanzen gedeihen – stärkt und erfreut uns nicht auch oft eine einfache Speise? Man könnte sagen, die Situation hilft uns, in unserer Lebenspraxis dem Konzept des Wabi-Sabi näherzukommen.
So verstanden ist Askese eben nicht Beschränkung um ihrer selbst willen, sondern eine Form der Übung, die einer spirituellen Haltung entspricht und unserer praktischen Aikido-Erfahrung entspringt. Dienen nicht alle Übungen des Aikido dazu, Überflüssiges zu vermeiden und das eigene Ego zu überwinden? In den alten japanischen Kampfkünsten galt es als notwendige asketische Übung, von den „Krankheiten des Geistes“, also von dem, was die klare Sicht behindert, abzulassen: „Ikkyo bedeutet, zahlreiche Dinge in einem Bündel fortzuwerfen. Zahlreiche Dinge bedeutet zahlreiche Krankheiten. Krankheiten heißt Krankheiten des Geistes. Du bündelst die verschiedenen Krankheiten in deinem Geist und zerteilst sie, wie mit einem Schwert.“ (Yagyu Munenori)
Die Arbeit der Askese ist dabei das Abtrennen des dem Geiste anhaftenden Überflüssigen, worüber Tamura Sensei sagt: „Indem man sein Herz befreit lässt man freie Bewegungen entstehen. Indem man seinen Körper frei bewegt, erschafft man ein Herz, das durch nichts festgehalten werden kann.“ Was aber durch nichts festgehalten werden kann, bewegt sich plötzlich, wie das Licht (katsuhayahi), oder um noch einmal sinngemäß mit Munenori Yagyu zu sprechen: „Du sollst deinen Geist zur Kampfzone bewegen so, wie sich der Mond zum Wasser begibt“.
Masakatsu Agatsu, als Sieg des Übenden über sein Ego führt den Budoka, so jedenfalls verstehe ich O Sensei, von innerer Begrenztheit zu Freiheit und zur Wahrnehmung der Verantwortung über seinen gesamten Lebenskreis. Nikos Kazantzakis schreibt in seinem poetischen Buch „Askese“: „Jeder Mensch besitzt einen eigenen Kreis aus Dingen, Bäumen, Tieren, Menschen, Ideen – und diesen Kreis zu retten ist seine Pflicht. Er, kein anderer. Wenn er ihn nicht rettet, wird er niemals erlöst ein.“ Oder, wie Tamura Sensei 1997 in einem Neujahrsgruß geschrieben hat: „Sparsam mit den Ressourcen umgehen, …wäre wahrscheinlich der erste Schritt (der Menschheit) in die spirituelle Zivilisation“.
Das vergangene Jahr unter dem Zeichen der Askese verstanden, war nun sicher nicht immer ein schönes, aber es war so gesehen zweifellos ein wichtiges Jahr. Es hat zumindest einige mehr dazu gebracht, unsere Lebensart des Überflusses zu überdenken. Es hat auch unser Bemühen, auf dem Weg des Aiki voranzukommen, wieder auf Bereiche außerhalb der gewohnten Pfade ausgedehnt. Es hat durch seine Beschränkungen vielleicht sogar dazu geführt, Shin-Myô (Innen und Außen) zu harmonisieren, hat uns Zeit gegeben unser Üben zu reflektieren und so auch Platz geschaffen, damit aus dieser wiedergewonnenen Leere Neues entstehen kann (Shin Ku Myô U). Mit einem nun wieder offenen Geist aufbrechen, das ist doch eine gute Basis, um im Neuen Jahr wieder gemeinsam Fortschritte machen zu können, nicht wahr?
Ich habe einst, verwundert über die guten Trainingsrahmenbedingungen auf einem Lehrgang, Tamura Sensei gefragt, ob denn Askese nicht von Wichtigkeit für unsere Entwicklung sei. Darauf antwortete er ernst: „Sehr wichtig!“, um dann aber, nach kurzer Pause und mit einem freundlich-verschmitzten Lächeln zu ergänzen: „Aber bitte, übertreiben Sie es nicht.“ In diesem Sinne, sehen wir uns doch geläutert durch das vergangene Jahr und gehen wir frohen Mutes und mit einem offenen, unvoreingenommenen Geist (Mushin) ins Neue Jahr 2021!
Ich wünsche Ihnen Gesundheit, Harmonie und Frieden und uns allen, dass wir uns hoffentlich bald auf der Tatami wiedersehen und miteinander trainieren können.
Auf bald
Frank Koren