Letztendlich muss man immer eine Entscheidung treffen. Alles beginnt mit der Entscheidung, ob man eine Kampfkunst erlernen möchte. Denn: wozu denn eigentlich?
Auch wenn Terrorismus, Tod und Leid fast alltäglich geworden sind, leben wir hier in sehr friedlichen Zeiten. Man muss nicht mit Messer und Schwert sein Hab und Gut gegen Diebe und Räuber verteidigen – und das ist gut so. Dennoch sind Sportarten wie MMA (Mixed Martial Arts) durch die UFC (Ultimate Fighting Championship) seit Jahren immer mehr im Kommen. Vor etwa 20 Jahren war ich von Wrestling im Fernsehen total begeistert. Auch wenn nie darüber gesprochen wurde, wusste man, dass das zu einem großen Teil „nur Show“ ist. Heute hat die Jugend neue Athleten, zu denen sie aufblicken kann. Der große Unterschied: der Scheiß ist so echt, wie es sein kann.
Männer trainieren ihre Körper, ihre Reflexe und ihre Bewegungen – sie studieren Kampfsportarten und entziehen aus verschiedensten Disziplinen die physikalische Essenz, um (im Rahmen der Regeln) das Maximum an Effektivität herausholen zu können. Dabei geht es aber nicht nur um Boxen und Treten, sondern auch um Bodenkampf. Man gewinnt einen Kampf also nicht nur durch (technisches) KO, sondern auch durch „tapping“ – sprich, wenn der Gegner aufgibt, weil entweder der Druck auf seine Gelenke zu groß wird (Jointlock) oder er kurz vor der Ohnmacht ist (Chokeout).
„Was hat das alles aber mit Aikido zu tun?“
Aikido hat seine Wurzeln im Budo, in der Kriegskunst. Heutzutage stehen wir uns nicht mehr in Duellen oder Kriegen mit Schwertern gegenüber und müssen glücklicherweise auch keine Konflikte mehr auf diese Art lösen. Aber wenn man die Bewegungen im Aikido genau hinterfragt und ihren Ursprung erkundet, versteht man, dass sie sich aus tödlichen Techniken entwickelt haben und nur kleine Änderungen im Bewegungsablauf schwerwiegende Folgen haben könnten.
Aikido ist aber nicht dazu da, um Menschen zu verletzen oder gar zu töten. Aikido stiftet Frieden. Im Aikido lernen wir, uns zu entscheiden: wir lernen uns und unseren Charakter durch Aikido kennen und können uns entscheiden, welchen Weg wir durch Aikido einschlagen. Benutzen wir unsere Fähigkeiten, um den Menschen zu schaden – oder benutzen wir sie, um den Menschen zu helfen? „Helfen“ geht in diesem Fall über den klassischen Konflikt von „Prinzessin in Not“ hinweg: damit ist nicht nur gemeint, dass wir uns selbst in Notsituationen verteidigen oder andere Menschen beschützen, die angegriffen werden. Damit ist auch gemeint, dass wir unseren Angreifern die Möglichkeit geben, sich zu entscheiden und eventuell auch ihre Entscheidungen zu überdenken.
„Okay, aber warum sieht man dann niemanden im Ring, der Aikido verwendet? Weil es nicht funktioniert!“
Die Effektivität von Aikido anzuzweifeln ist eigentlich das Hauptargument, wenn Menschen über Aikido sprechen, die es entweder noch nie gespürt haben und/oder noch nicht länger selbst studiert haben. So viel vorweg: „Aikido works – your Aikido, however, may not“. Hier soll es jetzt aber gar nicht darum gehen, zu „beweisen“, dass Aikido funktioniert. Die gesamte Diskussion darüber ist eigentlich vollkommen obsolet. Denn: wenn sich jemand zu entscheidet, eine traditionelle Kampfkunst zu studieren, dann studiert man sie, um sie nie zu benutzen.
Dazu eine kleine Geschichte: Ein Schüler fragt seinen Meister: „Meister, Ihr sprecht dauernd von Kriegern, dabei haben wir Frieden. Wozu soll ich weiterhin trainieren?“ Und der Meister antwortet: „Es ist besser ein Krieger im Garten zu sein, als ein Gärtner im Krieg.“
Nicht umsonst gibt es im Aikido keine Wettkämpfe. Es geht nicht darum, wer der bessere Kämpfer ist oder welche Kampfkunst besser ist als die andere. Im Endeffekt geht es um unsere eigene Haltung. Wenn wir erst gar nicht angegriffen werden, dann haben alle Kampfkünste erlernt, obwohl wir gar keine brauchen.
„Aber ist Aikido nicht eine Kampfkunst, in der man nicht angreifen lernt?“
Man kann nicht schreiben lernen, ohne auch lesen zu lernen – Budo besteht (wie alles andere im Universum) aus Ursache & Wirkung. Gute Angriffe erfordern eine Re-Aktion, keine guten Angriffe benötigen womöglich nur eine Aktion – gemeint ist damit, dass die Grenzen zwischen Angreifer und Angegriffenem verschwimmen können. Wenn man mit guten Angriffen im Dojo trainieren kann, wird man selbst auch danach streben, gut angreifen zu können. Erst mit guten Angriffen kann die Technik des Gegenübers feiner und präziser werden. Schlampige Angriffe hingegen vergiften beide Trainingspartner zugleich (wenn man die Entscheidung trifft, sie aus Achtlosigkeit entstehen zu lassen).
Es gibt für jemanden, der eine Kampfkunst studiert, keinen Grund, jemanden anzugreifen – und damit ist gemeint: Streit zu suchen um dann mit dem erlernten Wissen schön austeilen zu können. Wahre Studenten des Budo, die in ihrem Dojo auch eine geistige Schulung genießen dürfen, werden diesen Drang nicht verspüren, weil… ja, wozu denn eigentlich? Die Welt ist doch viel schöner, wenn wir uns nicht beweisen müssen, wenn jeder in Frieden und Harmonie miteinander leben kann, wenn es keine Wettkämpfe darum geben muss, wer nun besser ist als der andere. Wenn alle Menschen einfach das tun, was sie gerne tun – ohne, dass sie sich mit anderen messen müssen, wie gut sie darin sind.
Deshalb ist es eine schöne Vorstellung, wenn man sich ausmalt, wie die Welt wohl wäre, wenn mehr Menschen Aikido studieren würden, ihr Ego Stück für Stück ablegen und sich einfach an einem harmonischen Miteinander erfreuen. Letztendlich muss man immer eine Entscheidung treffen…